Wie wirkt sich der drastische Meereisverlust auf die Artenvielfalt in der Antarktis aus?

Die Meeresökologin und Koordinatorin des interdisziplinären Department Maritime System Dr. Heike Link übernimmt die Fahrleitung für die Expedition in die Antarktis an Bord des deutschen Forschungseisbrechers Polarstern (Foto: Heike Link/Universität Rostock).
Glasschwämme an einem antarktischen Findling (engl. dropstone). Der Gesteinsbrocken war vermutlich vom Eisstrom auf das Weddellmeer hinaus transportiert worden, hatte sich dann aus dem Schelfeis gelöst und war zum Meeresboden gesunken (Foto: Thomas Lundaelv/Alfred-Wegener-Institut).

Die Tiefen des Weddellmeers beherbergen artenreiche Lebensgemeinschaften aus Schwämmen, Kaltwasserkorallen und vielen anderen Organismen. Dazu ist die eisreiche Region bei fortschreitendem Klimawandel ein potenzielles Refugium für eisabhängige Algen und Tiere, vom Krill bis hin zu Weddellrobben. Das Alfred-Wegener-Institut koordiniert ein Konsortium aus elf Institutionen aus Europa und den USA, das im neuen EU-Projekt WOBEC die Grundlage für systematische Langzeitbeobachtungen möglicher Veränderungen dieses einzigartigen Ökosystems schaffen. Das Projekt erhält rund 1,9 Millionen Euro Förderung und wird eine auf neuestem wissenschaftlichem Erkenntnisstand beruhende Strategie für die Beobachtung von Veränderungen im Bereich eines von der EU und verschiedenen Staaten vorgeschlagenen Schutzgebiets im Weddellmeer entwickeln. Das Kick-off-Meeting von WOBEC findet vom 11. bis 14. Juni in Bremerhaven statt.

Das Weddellmeer ist das größte Randmeer des Südlichen Ozeans in der Antarktis und ein Hotspot des Lebens. Kaiserpinguine und Robben bekommen hier ihren Nachwuchs. Krillschwärme, die Mikroalgen unter den Eisschollen abweiden, locken Fische, Wale und Seevögel an. Am Meeresboden brüten Millionen von Eisfischen und Unterwassergärten aus Glasschwämmen, Nesseltieren und Seescheiden erreichen stellenweise einen ähnlich hohen Artenreichtum wie tropische Riffe.

Elf Institute aus acht Ländern, darunter die Universität Rostock, haben sich zum Weddell Sea Observatory of Biodiversity and Ecosystem Change (WOBEC) zusammengeschlossen. In den kommenden drei Jahren werden die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den aktuellen Status der Artengemeinschaft im Weddellmeer bestimmen, als Referenz für eine langfristige Beobachtung des Ökosystems in einer sich wandelnden Antarktis. WOBEC ist eins von 33 Projekten des Flaggschiff-Programms BiodivMon der Europäischen Union unter dem Dach von Biodiversa+, der European Biodiversity Partnership. Das Programm startete im April mit einem Kick-Off-Meeting in Tallinn, Estland. Die nationalen Förderpartner finanzieren WOBEC mit 1,9 Millionen Euro. Die Universität Rostock wird dabei vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für Arbeiten zum Kohlenstoffkreislauf vom Meereis bis zum Meeresboden sowie für die Fahrtleitung der Expedition unterstützt.

„Im Weddellmeer existiert ein weitestgehend unberührter und damit besonders schützenswerter Naturraum. Dieser hat nicht nur einen hohen ästhetischen Wert, sondern beherbergt einzigartige Lebensvielfalt. Diese biologische Vielfalt ermöglicht auch wichtige Ökosystem-Dienstleistungen, etwa das Speichern von Kohlenstoff in der Tiefsee durch absinkende Eisalgen und Planktonreste“, erklärt Dr. Hauke Flores, Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut und Koordinator des EU-Projekts. „Aber der Klimawandel ist längst auch in der Südpolarregion angekommen: In den letzten Jahren haben wir einen unerwartet drastischen Rückgang des Meereises beobachtet. Wir wissen nicht, ob und wie sich die dortigen Bewohner an die veränderten Umweltbedingungen anpassen werden.“ Dr. Heike Link, Leiterin des Projekts an der Universität Rostock ergänzt: „Die Herausforderung besteht nicht nur darin, das Ökosystem erstmals umfassend zu verstehen, sondern auch darin, eine systematische Datenerhebung so interdisziplinär und international aufzustellen, dass sie auch in Zukunft weitergeführt werden kann.“

Der Fokus des Projekts liegt auf der Beobachtung möglicher langfristiger Veränderungen der Biodiversität im östlichen Weddellmeer. Nationen wie Deutschland, Norwegen und Südafrika forschen seit Jahrzehnten in dieser Region, aber es fehlt an systematischen Studien, also Langzeitbeobachtungen, des riesigen Ökosystems.

Für das Jahr 2026 ist unter der Leitung von Heike Link eine Expedition mit dem Eisbrecher Polarstern entlang des Null-Meridians und bis ins südliche Weddellmeer geplant. Auf der Reise wollen die Forschenden unter anderem das Ökosystem um den Maud-Rise-Seeberg erkunden und an frühere Untersuchungen der benthischen Artengemeinschaften am Kap Norwegia westlich der deutschen Neumayer-Station III anknüpfen.„Die Ausfahrt wird uns zeigen, ob das gemeinsam erstellte Konzept der Datenerhebung mit modernen und traditionellen Methoden die notwendigen Ergebnisse für das Verständnis der Entwicklung des Ökosystems funktioniert“, so Heike Link.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden nicht nur neue Daten sammeln, sondern auch ihre Archive durchforsten und bislang nicht veröffentlichte oder schwer zugängliche Ergebnisse in öffentlichen Datenbanken für die Allgemeinheit nutzbar machen. „Auf der Grundlage historischer wie aktueller Daten wollen wir eine Strategie für langfristige Umweltbeobachtungen im Weddellmeer mithilfe von autonomenObservatorien, Satellitenfernerkundung und schiffsbasierten Messungen erarbeiten“, sagt Hauke Flores. Dies soll unter Einbeziehung von Interessengruppen aus Politik, Wirtschaft und Naturschutz und in enger Zusammenarbeit mit der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (CCAMLR) erfolgen.

Die EU und andere CCAMLR Mitglieder setzen sich seit langem dafür ein, große Teile des Weddellmeers unter Schutz zu stellen. Mit der Expertise des AWI wurde ein Schutzkonzept erarbeitet und 2016 erstmals bei der CCAMLR eingereicht. „Das vorgeschlagene Meeresschutzgebiet umfasst aktuell zwei Regionen im westlichen und im östlichen Weddellmeer, die zum Teil im Studiengebiet von WOBEC liegen“, erklärt Dr. Katharina Teschke, Meeresökologin und Leiterin des Schutzgebiet-Projekts am AWI. Das geplante Meeresschutzgebiet verfolgt einen Ansatz, der das gesamte Ökosystem in den Blick nimmt und auf dem Vorsorgeprinzip beruht. „Es geht darum, eine bislang unberührte Meeresregion als Refugium für kälteliebende Arten zu erhalten, wo sie sich bei anhaltender Erwärmung der Erde ungestört an die veränderten Umweltbedingungen anpassen können“, sagt Katharina Teschke.

„Bislang scheiterte der Antrag für das vorgeschlagene Meeresschutzgebiet an der geforderten Einstimmigkeit, und die derzeitige geopolitische Lage erschwert die Verhandlungen von CCAMLR. Hoffnung macht jedoch die Verabschiedung des Abkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt in Gebieten jenseits der nationalen Gerichtsbarkeit (BBNJ Treaty) im vergangenen Jahr“, so Katharina Teschke. „Es ist ein positives Signal, das vielleicht hilft, den Prozess der Ausweisung eines Schutzgebiets im Weddellmeer unter CCAMLR zu stimulieren. WOBEC bietet die Chance, auf wissenschaftlicher Basis bereits jetzt eine Strategie für die Erfassung der Biodiversität und ihrer zukünftigen Veränderungen im Bereich des Meeresschutzgebietes zu entwickeln.“

Mehr zum Projekt unter https://wobec.aq/

Kontakt:
Dr. Heike Link
Universität Rostock
Interdisziplinäre Fakultät
Department Maritime Systeme
Tel.: +49 381 498 8921
E-Mail: mts@uni-rostock.de


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